Vom Leben und Sterben in Albanien

von Rahel Fröse am 7. Dezember 2017

Diesen Artikel hat Rahel vorgestern geschrieben. Heute Nachmittag ist unsere liebe Nena Aishe gestorben.

Seit zwei Tagen liegt die Mutter meiner albanischen Mutter im Sterben. Sie hatte am Sonntag Abend ganz plötzlich einen Schlaganfall und liegt seither im Koma. Es geht dem Ende entgegen…

Ich kenne und liebe diese alte Frau sehr. Gerade in der Anfangszeit war sie häufiger bei uns im Haus, auch für mehrere Wochen. Unsere Rrushe ist ihre geliebte älteste Tochter, die sie mit 16 Jahren bekommen hat. Rrushe sagte mir öfter, dass ihre Mutter ihr eher wie eine Schwester ist, als wie eine Mutter.

Seit einiger Zeit nun war sie zunehmend dement. Körperlich aber doch noch sehr fit, trotz ihren 84 Jahren und einem unvorstellbar hartem Leben.
Sie hat mit 15 Jahren geheiratet und mit 16 Jahren ihr erstes Kind bekommen. Es folgten acht weitere Schwangerschaften, wobei nur vier der acht Kinder ihre Kindheit überlebten. Zu dieser Zeit war es noch so normal, dass in fast jeder Familie ein Kind an einer heute vermeidbaren Krankheit starb. Wenn Rrushe mir erzählt von den Geburten im Kuhstall, weil das im Winter der wärmste und geschützteste Ort war, dann wird mir ganz anders. Was für ein hartes Leben. Immer wieder stehe ich voller Respekt vor diesen alten Frauen, schau mir ihre Hände und ihren abgenutzten Körper an und kann nur erahnen, was sie in ihrem Leben alles körperlich leisten mussten.

Und so liegt da nun diese dünne Frau. Sie atmet schwer. Sie liegt nicht weit von dem Haus entfernt, in dem sie die meiste Zeit ihres Lebens verbracht hat. Die Frauen im Raum, Verwandte und Nachbarn, glauben, dass sie noch alles mitbekommt und weisen die zurecht, die weinen und ihrer Traurigkeit freien Lauf lassen wollen. Das wird strikt unterbunden. Seit heute sind Männer und Frauen getrennt in zwei Räumen. Die Frauen halten die „Wache“ bei der Sterbenden.

Als ich gestern das erste Mal dorthin kam, war ich überrascht so viele Menschen zu sehen. Die verbliebenen zwei Geschwister waren schon angereist und auch alle möglichen anderen Verwandten. Ich hatte viele sehr unterschiedliche Gedanken.
In Deutschland läge diese Frau jetzt auf der Intensivstation, würde beatmet und mit einer Sonde ernährt werden. Und man wüsste ganz genau, was in ihrem Körper eigentlich passiert ist. Hier wissen wir nichts so wirklich. Die Menschen nehmen an und sicher haben sie auch Erfahrung. Dennoch, die Ungewissheit und die Spannung: sollen wir noch in ein Krankenhaus gehen, oder nicht? Machen wir noch alles menschenmögliche für den geliebten Menschen? In welches Krankenhaus kann man gehen? Das in unserer Stadt kann man vergessen. Alle anderen sind weit und will man das der alten Frau noch zumuten?
Es ist schwierig und es tut mir so leid, dass sie nicht bessere Hilfe zur Seite haben.

Auf der anderen Seite denke ich auch, dass es für diese Frau doch besser ist, jetzt gehen zu dürfen und nicht noch künstlich am Leben erhalten zu werden.

Eine Krankenschwester, die in dem Dorf lebt, kommt immer wieder vorbei, um Blutdruck, Temperatur und den Puls zu messen. Die Menschen hier haben oft schon so viele sterben sehen, sodass sie sehr gut auch die Anzeichen kennen, die das fortschreitende Abscheiden des Sterbenden begleiten. Darum werden immer wieder die Füße der alten Frau betastet. Werden sie schon kälter?
In einem letzten verzweifelten Versuch, probiert die Krankenschwester eine Infusion zu geben. Doch die schwachen Venen platzen immer wieder nach kurzer Zeit. Dann geben sie es noch viermaligem Probieren auf. Ein gewisser Hoffnungsschimmer schwindet…

Als ich mich in dem Raum umschaute, sah ich alte und junge, Frauen und Männer, wahrscheinlich alle haben noch nie wirklich von Jesus gehört. Von dem Licht, das er gebracht hat, von der Hoffnung auf ein ewiges Leben mit ihm, von dem Weg, den er durch sein Sterben und seine Auferstehung geöffnet hat zum Vater. Es macht mich traurig. Und ich spüre innerlich einen Antrieb zu reden. Aber was sagen?
Ich möchte nicht taktlos sein. Eigentlich spricht eine junge Frau nicht vor so vielen Männern. Aber das soll mich nicht abhalten.

Kurz bevor wir gehen, nehme ich nochmal meinen Mut zusammen und frage um Erlaubnis, etwas aus der Bibel lesen zu dürfen. Ich lese Psalm 23 und sage noch etwas dazu. Manche schauen nachdenklich, einer lächelt mich immer nur an. Aber gerade die Söhne der Sterbenden, zu denen ich eine sehr gute Beziehung habe, hören zu und wollen etwas hören. Als ob sie die ganze Zeit darauf gewartet hätten.

Wie Verdurstende, die nach Wasser rufen.

Hier ein Foto von Rahel und der lieben Nena Aishe.

 

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