Ich lese in meiner Bibellese gerade die Geschichte von David. Zu den Stellen in den Samuelbüchern sind auch immer die passenden Psalme angegeben, die David in bestimmten Situationen seines Lebens geschrieben hat.
David hatte es sehr schwer. Seit König Saul David wegen seiner Eifersucht fast getötet hätte, ist dieser auf der Flucht. Er führte ein höchst unstetes Leben für viele Jahre. Hier war er nicht willkommen, dort musste er fliehen, dann kam wieder Saul mit seiner Armee, um ihn zu töten. Er flüchtete in die Berge, in die Wüste, in Städte und Höhlen. Er lebte in ständiger Angst vor seinem Verfolger, vor Menschen, die ihm Böses wollten, obwohl er völlig unschuldig war.
Heute las ich Psalm 56. Dieses Lied schrieb David zu Beginn seiner Flucht. Er kam in eine Stadt und war in Gefahr, dem dortigen König ausgeliefert zu werden, da er erkannt wurde. Er bekam Angst und dann die Idee, sich verrückt zu stellen. Er stellte sich wie ein Wahnsinniger und das rettete ihm das Leben. (Ideen muss man haben!)
Daraufhin schrieb er diesen wunderschönen Psalm.
An einer Stelle kam ich beim Lesen ins Stocken:
„Meine Heimatlosigkeit hast du abgemessen. Gieße meine Tränen in deinen Schlauch. Stehen sie nicht in deinem Verzeichnis?“ (Vers 9)
Heimatlosigkeit. Seit wir vor sechs Jahren ausgereist sind, hat sich die Bedeutung dieses Wortes für mich verändert. David war ganz am Anfang seiner Zeit auf der Flucht. Er musste Hals über Kopf fliehen. Er hat alles zurückgelassen und eine höchst ungewisse Zukunft lag vor ihm. Er fühlte sich plötzlich heimatlos.
Bei mir kam dieses Gefühl nicht plötzlich. Es kam schleichend, aber immer mehr.
So sehr wir hier unser Zuhause haben und uns meistens wohlfühlen und am richtigen Platz - hier in Albanien ist nicht unsere Heimat. Die Menschen kommen woanders her. Sie denken zutiefst anders, sie handeln anders, sie reden anders, sie fühlen anders. Wir versuchen, so gut wir können, einer von ihnen zu werden. Aber wir sind es nicht und werden es nie werden. Das ist ernüchternd.
Im gleichen Moment wird die Zeit, die wir getrennt von unserer deutschen Heimat leben, immer länger. Damit tritt automatisch ein gewisser Entfremdungsprozess ein. Wir freuen uns auf Deutschland und wir lieben unsere Familie und Freunde. Wir lieben so vieles in Deutschland. Und doch ist es irgendwie nur ein Land, in das wir zu Gast kommen. Wir haben uns verändert. Dort hat sich vieles verändert.
Die Menschen beschäftigen ganz andere Dinge wie uns hier in Albanien. Die Gesprächsthemen sind oft Welten entfernt von denen hier. Der Wohlstand hat eine ganz andere Dimension. Eigentlich kommt man ja in sein Zuhause, aber man spürt immer wieder, dass man nicht mehr wirklich dort zuhause ist. Es ist komisch und manchmal auch nicht leicht zu benennen oder zu erklären. Ich denke, dass es etwas ist, das tief in der Seele passiert ist und passiert. Dieses Gefühl: hier gehöre ich nicht dazu, aber dort irgendwie auch nicht mehr.
Dieses Gefühl kennt jeder, so denke ich, der länger im Ausland gelebt hat. Und ehrlich gesagt ist es kein schönes Gefühl. Deshalb redet David auch im nächsten Moment von seinen Tränen. Von seiner Traurigkeit. Es tut weh. Es führt in Einsamkeit und sich nicht verstanden fühlen. Hier nicht und dort nicht. Wo gehöre ich hin? Wer bin ich eigentlich noch? Das sind Fragen, die Tränen produzieren können.
Aber Gott sieht diese Tränen. Er sieht diese Traurigkeit. Er sieht diese Heimatlosigkeit und den Schmerz, der damit kommt.
Er sieht das Herz und er versteht es. Er ist der Herzenskenner (Apg 1,24).
Ich glaube auch, dass jeder, der dieses Gefühl kennt (vielleicht muss man auch nicht im Ausland leben, um das zu fühlen, vielleicht reicht schon ein Wechsel des Bundeslandes…;) besser verstehen kann, was es heißt,
Eine Heimat zu haben, das ist etwas schönes und kostbares. Ich denke, eines Tages wird auch Deutschland wieder in gewisser Weise zu unserer Heimat werden.
Aber ich möchte nicht dieses tiefe innere Gefühl verlieren für
die bessere, himmlische Heimat,
das bessere, ewige Bürgerrecht,
den besseren, bleibenden Besitz.
Es ist all das, was uns unser Vater versprochen hat zu geben.
Die Heimat, die wir suchen und auf die hin wir leben.
Den Ort, den Jesus für uns bereitet, an dem wir zuhause sind. Wirklich zuhause.
An dem keine Tränen mehr gezählt werden, weil es sie nicht mehr gibt.
An dem wir uns nicht unverstanden und fehl am Platz fühlen. Warum?
Weil Jesus an diesem Ort ist. Weil Gottes Herrlichkeit da ist. Weil wir dafür geschaffen wurden und unruhig und heimatlos auf dieser Erde waren, bis wir diese ewige Heimat gefunden haben.
Davids Heimatlosigkeit - Gott hat sie gesehen und David durchgetragen.
Meine Heimatlosigkeit hier - Gott sieht sie. Und Gott gebraucht sie, um meinem Herzen Großartiges zu lehren, auch durch so manche Träne hindurch.
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