Die Schönheit im Mangel

Ich würde nicht sagen, dass wir wirklich Mangel leiden. In den acht Jahren hier in Krume hatten wir immer alles, was wir brauchten. Und in den letzten Jahren hat auch das Sortiment an Lebensmitteln enorm zugenommen. Jetzt bekomme ich hier sogar Balsamico Essig und (fast deutsche) Butter und noch vieles mehr. 

Dennoch, wenn man es mit dem vergleicht, was man in Deutschland an jeder Ecke bekommt, ist es nicht viel. Und klar vermisst man hier und da guten Käse, leckere Wurst usw. Bei dem Gedanken, bald wieder in Deutschland, im Land des Überflusses, zu leben und alle geliebten Produkte zur Verfügung zu haben, wann immer ich will, da ist zum einen natürlich Vorfreude. Aber immer mehr merke ich, dass dieser „Mangel“ an gewissen Dingen auch dazu geführt hat, dass ich vieles viel mehr schätze und intensiver genieße. Und das hat mein Leben sehr reich gemacht. Und mit Freude erfüllt. Und besonders gemacht. 

Zum Beispiel haben wir in Tirana den Rossmann. Dorthin kommen wir sehr selten. Daher ist jeder Besuch bei Rossmann eine kleine Attraktion, eine große Freude, ein Event. Bald werde ich diesen Laden 5 Minuten entfernt von meinem Haus haben. Ich werde mehrmals im Monat dort hingehen. Das besondere wird er schnell verloren haben. Ein Event wird es sicher bald nicht mehr sein und mein Herz wird sich nicht mit kindlicher Vorfreude füllen, bei dem Gedanken, dort einzukaufen, oder einfach auch nur durchzuschlendern.

Manchmal bekamen wir Pakete mit besonderen Sachen, zum Beispiel einem guten Käse. Wie habe ich diesen dann gehegt und gepflegt, langsam geöffnet und in kleinen Happen genossen. So was besonderes. Und wenn er weg war, war er weg und ich wusste, dass ich nicht zum Rewe gehen und einen neuen kaufen kann. Der Rewe wird bald ebenfalls 5 Minuten entfernt sein von meinem neuen Zuhause. 

Die Schönheit des Mangels wird so schnell nicht mehr da sein. Natürlich werden wir sicher den Luxus immer anders schätzen als andere, die nie in einem ärmeren Land gelebt haben. Dennoch wird diese Art des Lebens, wie wir es hier hatten, in Deutschland nicht mehr möglich sein, schlicht und einfach, weil ja alles da ist. 

Wenn ich über unser Leben und so manche Einschränkungen, die damit verbunden sind und waren nachdenke, dann erfüllt mich eine Dankbarkeit. Ich sehe die Schönheit, die mit Mangel einhergeht, die Vorfreude und Freude über einfaches, in Deutschland völlig normales. Das hat mein Leben so reich gemacht und meine Seele gesättigt, anstatt meinen Körper. 

Ich möchte auch in Deutschland nie vergessen, das alles nicht selbstverständlich ist. Will mich erinnern, welchen Zauber der Rossmann ausgeübt hat in einem fremden Land. Welche Freude ein einfaches Stück Gouda und eine Leberwurst bedeudeten. Die unbändige Begeisterung, als hier eine kurze Zeit Tiefkühl Apfelstrudel zu finden war oder Magnum Eis in der Truhe lag. Uns geht und ging es so gut hier! Und nicht alles zu haben, was wir gewöhnt waren, hat dazu beigetragen, dass unsere Herzen noch froher und dankbarer wurden. Und darin liegt die Schönheit im Mangel. 

Über das harte Leben mancher Frauen in Albanien

Ich bin eine Frau. Daher sehe ich das Leben hier aus den Augen einer Frau und ich fühle mit dem Herzen einer Frau. Und ich liebe die Frauen hier und es macht mir viel Freude, ihnen das zu zeigen. Schon öfter habe ich hier Geschichten von Frauen erzählt. Von Freundinnen oder flüchtigen Bekannten. Und schon oft habe ich geschrieben, dass ich großen Respekt habe vor ihnen. Wo ich am Anfang immer mal dachte: „Jetzt lass dir doch nicht alles gefallen. Steh doch mal auf für dein Recht!“ - da denke ich jetzt viel öfter: „Was für eine starke Frau das ist. Was sie nicht alles erlitten hat und noch erduldet.“ Damit meine ich nicht unbedingt, dass ich es immer gut und richtig finde, wenn Frauen hier alles möglich hinnehmen. (Zum Beispiel dass der Mann sie schlägt, oder die Kinder, oder dass sie ihn völlig besoffen auf der Straße aufsammelt oder dass der Mann, der im Ausland lebt eben dort eine weitere Frau und Kinder hat…)

Ich will oft aufstehen und vor lauter Ungerechtigkeit laut aufschreien, will diesen Männern mal gewaltig die Meinung sagen, will den Frauen helfen, ihren schlimmen Lebensumständen zu entfliehen… doch die nackte, grausame und ungeschönte Wahrheit ist: Man kann sehr wenig machen!

So traf ich letzte Woche eine junge attraktive Frau, die Schwester meiner Nachbarin. Sie hat zwei Söhne lebt in der Hauptstadt. Von meiner Freundin hatte ich schon gehört, dass sie gewaltige Eheprobleme hat und sich trennen will. Das ist schon ein grober Schritt für eine albanische Frau und ist nur dann möglich, wenn sie Unterstützung von seitens ihrer Familie hat. Ansonsten kann eine Frau (jedenfalls in unserem Kontext) nicht viel machen. Ich nahm mir Zeit für sie und wir fuhren in ein nettes Café etwas außerhalb der Stadt um in Ruhe reden zu können. 

Nach anfänglichen seichteren Themen erzählte sie mir von ihrer Ehe. Ihr Mann lebt in England. Er hat kaum Interesse an ihr und den beiden Söhnen. Natürlich hat auch er eine andere Frau oder Geliebte in England (ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es einem als Frau da gehen muss…). Er beschimpft sie oft. Wenn er da ist, schlägt er sie, auf vor den Kindern. Er überwacht sie eifersüchtig, weiß über seine Familie (bei der sie wohnt) immer Bescheid, wo sie ist. Er teilt in keinster Weise sein Leben mit ihr, erzählt ihr nichts, was er tut, ob er was verdient. Das ist alles seine Sache und geht sie nichts an. Geld sieht sie nicht. Ihr Handy wird von ihm kontrolliert (wie sehr oft von den Männern hier…)

Ich bin sehr traurig, diese Dinge zu hören. Sie hat Tränen in den Augen und fragt mich, was sie denn machen soll. Sie ist zu ihrer Familie gezogen, allerdings ist das auch keine bleibende Lösung. Sie hat sich sogar eine Anwältin genommen, allerdings hat sie Angst, dass diese von ihrem eifersüchtigen Mann und dessen Anwalt eingeschüchtert oder/und bestochen wurde. (Nicht zu wissen, dass der Anwalt, den man bezahlt, auch wirklich für mein recht und gutes Eintritt, das ist schon echt beschissen - aber leider traurige Realität in Albanien.)

Nun will sie von mir wissen, was ich denke, will wissen, ob es ok war, zu gehen. 

Ihre Oma und Tante meinen, sie solle zurück gehen. Das muss man aushalten. (Da ältere Frauen oft selbst sehr viel erlitten und erduldet haben, scheint es mir oft so, als ob es auch nur diesen Weg gibt für sie. Wenn wir das erleiden konnten, dann könnt ihr das auch. - so klingt das jedenfalls oft in meinen Ohren und diese Frauen wirken auf mich sehr erbarmungslos. Haben aber eben auch oft ihre ganz eigene Leidensgeschichte und wurden vom Leben hart gemacht.)

Sie sagen, sie könne doch nicht zulassen, dass die Jungs „auf der großen Straße“ aufwachsen, d.h. ohne festen familären Rahmen, der sie in ihre Grenzen weist. 

Ich sage ihr meine Meinung dazu. Wie ich es auch aus der Bibel verstehe.

Ich weine mit ihr und ich bete für sie. Mehr kann ich nicht tun. 

Am nächsten Tag gebe ich ihr noch eine Karte mit ein paar persönlichen Worten und einem Psalmgebet mit auf den Weg. Und lege diese kostbare, von Gott geliebte Frau in seine Hand. Er wird für ihr Recht sorgen. Er wird eines Tages alles zum Recht bringen. Wird Ungerechtigkeit ausrotten. 

Mein Gebet ist es, dass sie wirklich erlebt, dass Jesus sie liebt, dass sie wertvoll ist, ganz gleich, wie ihr Mann sie behandelt, dass ihr Wert in Gottes Augen liegt, nicht in denen der Welt. Dass er gute Pläne hat mit ihr. 

Das sind meine Gebete für alle Frauen hier und auf der ganzen Welt, die unter solch harten Umständen leben müssen. Ich habe hier hautnah soviel erlebt an Not und Ungerechtigkeit im Leben von Frauen. Aber Gott sieht es auch! Und das beruhigt mich innerlich sehr, dass ich das weiß! 

Vom Ausreisen und Zurückkehren

Für viele gelten wir als Menschen, die Risiken eingegangen sind. Wir haben unsere Füße aufs Wasser gesetzt und sind gegangen. Wir leben in Albanien mit vier Kindern, in einer abgelegene, medizinisch total unterversorgten Gegend. Es gibt nicht viel hier. Und als wir vor gut sieben Jahren losgezogen sind, da kamen wir in ein uns fremdes Land, mit einer fremden, schwierigen Sprache, einer komplett anderen Kultur, wir kannten so gut wie niemanden und all das unbekannte war zeitweise sehr herausfordernd. Ja, sicher war es ein gewisses Risiko. Aber es war mehr noch das Rufen Gottes, das uns hierher gebracht hat. Und es war die Gnade Gottes, die uns hier gehalten hat.

Jetzt stehen wir wieder an einem Ufer. Das Fremde ist uns bekannt geworden. Die schwierige Sprache hat sich uns entschlüsselt und wir fühlen uns wohl mit ihr. Die Menschen sind uns Freunde und Familie geworden, der unbekannte Ort am Ende der Welt, ja, er hat sich zu unserem Zuhause gewandelt. Hier fand mein Leben statt. Hier habe ich mich weiterentwickelt und hier haben wir mit den Menschen gelacht und geweint, gefeiert und getrauert. Hier sind unsere Kinder das erste mal in einen Kindergarten gegangen, hier haben sie ihre Einschulung gefeiert. Hier haben wir als wachsende Familie gelebt, Siege errungen und Niederlagen hinter uns gelassen. Hier haben wir Gott von ganzem Herzen gedient und ach, welch Vorrecht es war und ist!

Aber wir stehen wieder am Ufer. Als ich Ende letzten Jahres an einem großen See war, lag dort ein altes Fischerboot still an Land. Seine Spitze zeigte auf das weite sich vor mir ausbreitende Wasser. Es war ruhig und im Dunst wirkte es mysteriös und unbekannt. Es war mir, als würde Gott mich auffordern, loszufahren. Aufs Wasser hinaus. Loszulassen, das nun bekannte Ufer verlassen und zu vertrauen. Ich ahnte, was es heißt. Ich spürte eine gewisse Angst, die in uns Menschen ganz natürlich hochkommt, wenn etwas Unbekanntes vor uns liegt. Ein Herz, das schneller schlägt und aus dem Gleichgewicht kommt. Aber auch die tiefe innere Ruhe, dass Gott alles weiß.

Einige Wochen später trafen wir im Frieden vor Gott die Entscheidung, genau das zu tun. Loszulassen und aufzubrechen. Wieder vertrautes hinter sich zu lassen und…

Naja und zurückzugehen woher man gekommen ist. Zurück zu dem damals vertrautem. Zurück zu Familie und Freunde. Zurück zur Muttersprache und zurück zur bekannten Kultur. Man weiß wieder, wie man sich wann wie und wo zu verhalten hat, was zu sagen und was besser nicht… oder?

Der Schritt wieder zurück ist für mich ein ebenso großer Glaubensschritt, wie der, der uns nach Albanien gebracht hat. Die Entscheidung zurück zugehen fällt mir viel, viel schwerer als die, Deutschland zu verlassen. Es ist wieder ein Schritt des Glaubens, auch in das ehemals bekannte zurückzukehren. 

Deutschland hat sich verändert. Ich habe mich verändert. All die Jahre haben viel mit mir und uns gemacht. Es wird nicht leicht werden. Es ist ein losfahren in ein zwar bekanntes und doch so fremd gewordenes Land. Viele werden nicht verstehen, dass es mir so geht. Viele werden da weitermachen wollen, wo wir aufgehört haben. Aber das geht nicht. Zu viel ist passiert, mein Herz hatte sich an das unbekannte gewöhnt und es langsam als bekannt adoptiert. Nun muss es wieder umprogrammiert werden. Das hart erkämpfte normale gleitet langsam wieder aus meinem Herzen und muss wieder ersetzt werden mit dem vormals normalen. Und das tut weh. Es ist ein trauern, ein loslassen, ein abgeben von einem Teil meiner selbst. 

Zuletzt las ich Psalm 112 und oh, wie hat dieser Psalm zu meinem Herzen gesprochen:

„Er (oder sie) wird sich nicht fürchten vor böser Nachricht.

Fest ist sein (oder ihr) Herz, es vertraut auf den Herrn.

Beständig ist sein (oder ihr) Herz, er (oder sie) fürchtet sich nicht…“ (Psalm 112,7-8)

Ich möchte diesen Vers etwas für mich umschreiben. Und wenn du möchtest kannst du einfach deinen Namen einsetzen:

Rahel
wird sich nicht fürchten
vor böser Nachricht,
vor unbekannten Dingen,
vor Traurigkeit und Einsamkeit,
vor dem Unverstanden sein und dem sich zurücksehnen.
Sie wird sich nicht fürchten
Vor Schwierigkeiten mit den Kindern
Vor dem Gefühl des Verlustes und des Versagens
Vor der der wohlbekannten Fremde
Vor Unsicherheit und offenen Fragen.

Fest ist Rahels Herz,
Es vertraut ja voll und ganz auf den Herrn!

Auf seine Kraft und Stärke
Auf seine Gegenwart und Nähe
Auf seine Ermutigung und Befähigung
Auf seine Liebe und Treue
Gnade und Annahme
Führung und Halt,
Zuversicht und Vergebung…

Beständig ist Rahels Herz,
Sie fürchtet sich nicht!

Dieses feste und beständige, verwurzelte Herz möchte ich haben und darum kämpfen. Den Lügen nicht glauben, sondern der Tatsache: auch auf diesem Weg geht Er mit und leitet und ruft und befähigt und erfüllt und… führt zum Ziel! Halleluja!

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Wenn du Corona in Albanien hast

Wenn du in Düsseldorf ins Flugzeug steigst Richtung Tirana, dann bist du in guten zwei Stunden gelandet. Das ist doppelt mal so schnell, wie wenn ich von Dannys Eltern zu meinen fahre. Albanien liegt in Europa, es ist Deutschland geografisch so nah und doch so fern… 

Das spüre ich immer wieder besonders drastisch, wenn es um medizinische Versorgung geht. Nun bin ich über sieben Jahre hier und nichts versetzt mir immer noch einen größeren „Schock“, als der Gang ins Krankenhaus. Ich spreche von unserem hier und dem in der Nachbarstadt. Aber ich weiß aus sicheren Quellen, dass auch die staatlichen Krankenhäuser in Tirana keineswegs besser sind, im Gegenteil. 

Damit ihr es euch besser vorstellen könnt, beschreibe ich einen normalen Gang ins Krankenhaus. Da unsere geliebten Nachbarn von unten leider auch an Corona erkrankt sind, gehen sie nun schon seit 12 Tagen zweimal täglich ins Krankenhaus. Egal wie das Wetter ist, bei Eis und Kälte, Sturm und Wind. Seit wir wieder hier sind, fahren wir sie dorthin. Da es in den letzten Tagen sehr kalt war und auch etwas geschneit hatte, lag der ganze Vorplatz des Krankenhauses noch voller Schnee, Räumung Fehlanzeige. Die wenigen Stufen beim Eingang sind rutschig und gefährlich. Ich hake Rrushe fester ein. Etwas Salz würde dem Abhilfe schaffen. 

Es sind schon einige Leute da, obwohl wir schon recht früh dran sind. Es wird nicht getrennt zwischen Corona Patienten und Patienten mit anderen Problemen, man will ja keinen stigmatisieren oder bloßstellen. Schamkultur sage ich da bloß. Verstandesmäßig nicht einzuordnen. Dort holen die beiden ihre Patientenakte, auf der nur der Name und die verschriebenen Medikamente stehen. Sonst nichts.

Wir gehen zum Arzt ein Haus weiter. Vor der Tür bleiben wir stehen. Geschlossen. Einer der Wartenden ruft die an der Tür stehende Nummer an (völlig normal hier - warum im Zimmer auf Patienten warten, wenn man auch im Nachbarcafe einen Schnaps oder Kaffee trinken kann?)

Dann kommt der Arzt. Er begrüßt einen kaum. Hat seine normale Alltagskleidung an. Er wäscht sich nicht die Hände, geschweige denn desinfiziert er sie. Er fragt kurz aber sehr oberflächlich nach dem Befinden. Misst dann den Sauerstoff und hört die Lunge ab. Dabei ist Rrushe extrem vornübergebeugt, wo ich mich frage, wie man da ordentlich eine Lunge hören will. Jaja, das ist eine schlimme Krankheit und auf die üblichen Medikamente kommen noch mal welche drauf, des Fiebers wegen. In keinster Weise wird erklärt, was verschrieben wird und warum. Der Arzt weiß Bescheid, man glaubt ihm alles und nimmt alles. Es geht ja um die Gesundheit. 

Am Ende nimmt der Arzt auch mich wahr. Ich bin die Frau von Danny. Ach Danny, der ist mein Freund. Ein guter Mann. Komm, ich untersuche dich auch. Ach nein, ich bin doch wieder völlig gesund. Aber doch, es muss sein. Damit zeigt er mir seinen Respekt. Mein Sauerstoffgehalt, sehr gut. Mein Puls etwas hoch. Daher noch Blutdruck messen. Und dann Pulli etwas hoch machen zum Lunge hören. Naja, etwas unangenehm war es schon… aber Respekt. Ich frage mich, wer wem Respekt gezeigt hat…

So nehmen wir die neue Liste an Medikamenten mit und laufen vorsichtig zu der nahegelegenen Apotheke, in der sie in den letzten Tagen schon 500 € gelassen hatten. Man holt also die Medikamente und geht wieder ins Krankenhaus zurück. In einem der kleinen, ziemlich unsauberen Räumen, deren Fenster mit Farbe zugekleistert sind, die Betten mit Wolldecken bedeckt und die Infusionsständer sehr verrostet und alt aussehen. Auf dem Boden steht eine Plastikschüssel, in der alle alten Nadeln und Spritzen geworfen werden. Ein Infusionsschlauch liegt daneben, mit Blutspuren.

Dort liegen und sitzen sie dann und lassen die ganze Palette an Medikamenten in ihren Körper fließen. Gift ist das, sagen sie und ahnen wohl, dass all das seine Nebenwirkungen mit sich bringt. Naja, morgen gehen wir in die Nachbarstadt, um die Niere auf Schädigungen zu prüfen. 

Nach ca einer Dreiviertelstunde gehen wir dann wieder, nur um am Abend wieder zu kommen, und am nächsten morgen wieder usw. 

Es tut mir im Herzen weh, wenn ich all das sehe und erlebe. Klar, es ist das, was sie kennen und vielleicht erleben die älteren all das schon als Fortschritt im Vergleich zur Zeit des Kommunismus. Dennoch, meine deutsche Sicht auf all das ist bestürzt, teilweise fassungslos. Da ich die Arbeit im Krankenhaus kenne und selbst drei Jahre da gearbeitet habe, fallen mir sicher die vielen Mängel allein in der Hygiene (die bei Corona ja nicht unwichtig ist…) auf. Dabei rede ich nicht von unserem teilweise vielleicht auch etwas überzogenen Hygienefimmel, sondern von elementaren Dingen wie Händewaschen.

Menschen sterben hier definitiv schneller. Dennoch wundere ich mich manchmal, dass nicht noch mehr sterben. Dies soll keine Anklage sein, ich möchte auch nicht schlecht über unsere albanischen Freunde schreiben. Aber das ist die Lebensrealität der Menschen hier und vielleicht stimmt es uns mal wieder dankbar für unsere gute deutsche medizinische Versorgung und Absicherung.

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Vom Minimalismus, engen Wohnungen und der Freude an Schönheit

Zu Weihnachten habe ich ein schönes Buch geschenkt bekommen. „Mein zuhause zum Aufatmen“ heißt es und darin geht es darum, eine gemütliche Minimalistin zu werden. Es geht darum, den eigenen Stil zu finden, schöne Räume zugestalten, Kram loszuwerden, Ruhe Oasen zu schaffen und zu lernen, wie man das Beste aus einem individuellen Raum macht, welcher es auch immer sein mag.

Manchmal fühle ich mich schon komisch, so etwas hier in Albanien zu lesen und mich damit zu beschäftigen. Manchmal habe ich sogar kurzzeitig ein schlechtes  Gewissen. Wie kann ich mich bei so vielen Nöten um mich herum nur mit so etwas Trivialem beschäftigen? Doch da es mir gut tut und es eine gute Ablenkung eben von all dem ist, was an Not ständig auf mich einprasselt, gönne ich mir Momente, mich mit „nicht gerade dem wichtigsten“ zu beschäftigen. Und doch ist es ja auch ganz unwichtig. Wir haben immer wieder viel Besuch gehabt die letzten Jahre und es ist mir sehr wichtig, dass sich Menschen bei uns zuhause und in unserer Familie „sauwohl“ fühlen (wie man bei uns im Frankenwald sagt…) 

Bei den allermeisten Albanern hier geht es allerdings nicht unbedingt darum, wie sie ihr zuhause gemütlich und minimalistisch einrichten können. Kaum einer beschäftigt sich mit so etwas. Viele sind Minimalisten. Aber nicht, weil sie sich dafür entschieden hätten, sondern weil sie schlichtweg keinen Kram besitzen, der ihnen alles voll stellen könnte und den sie loswerden müssten. Und falls sie doch einiges haben, dann ist es so gut versteckt, dass es keine neidischen Blicke auf sich zieht. Das Gegenteil ist aber auch manchmal der Fall, nämlich dass man seinen Reichtum extra  zur Schau stellt.

Der Stil ist hier auch sehr anders als unserer, obwohl er sich so langsam verändert. Als wir hierher kamen, da war noch in den meisten Zimmern die komplette Wand um das Fenster mit Vorhang zugehängt. Die Leiste ganz oben und über die Länge der Wand gezogen. Ich fand es höchst unvorteilhaft und oft erdrückend und einengend. Auch kam dadurch so gut wie kein natürliches Licht in den ohnehin schon dunklen Raum. (Wie kann man nur mit so wenig Tageslicht leben? Das ist für mich eines der wichtigsten Dinge in der Wohnung: Licht!) 

Nun ja, seit ungefähr vier Jahren hat sich hier im Ort dann immer mehr die Gardinenstange durchgesetzt. Es war schon fast revolutionär, als meine Freundin sich bei ihrem Mann durchsetzte und ihn tatsächlich dazu brachte, Halterungen in die Wand zu bohren für dieses neumodische Ding. 

Seither hat dieser Trend doch breite Kreise gezogen und immer mehr Haushalte haben auf Gardinenstange umgestellt. 

In unserer kleinen Wohnung allerdings herrscht mein Stil vor. Es ist für mich sehr wichtig, dass ich mich hier in der “Fremde“ in meinem Zuhause wohl fühle. Viel natürliches Licht, kleine Lampen am Abend die gemütliche Atmosphäre verbreiten, Bilder der Kinder an den Wänden, Bücherregale, viele Pflanzen usw. 

Etwas, was wir allerdings mit den meisten albanischen Haushalten hier teilen, ist die Enge, ist die kleine Größe der Wohnung (oder wie man das sagt…). Allein dieser Fakt zwingt mich, minimalistisch zu sein und zu bleiben. 

Dieses Buch nun, das ich lese, geht wohl eher davon aus, dass jeder ein Haus besitzt und nicht weiß, was zu tun mit all dem Platz. Für was möchtest du den Raum nutzen, war eine Frage. Nun, unser 4x4 m2 Schlafzimmer wird zum schlafen, zum arbeiten, zum spielen und als Wohnzimmer genutzt, da es neben der kleinen Küche der einzige „Gemeinschaftsraum“ ist (naja, eigentlich ist es primär unser Schlafzimmer…). Da ist dann nur noch das gleich große Kinderzimmer, das vier Kindern Platz zum schlafen und spielen gibt, allerdings im Winter nicht immer ganz warm ist…

Diese großen Unterschiede der Lebensweise hindern mich allerdings nicht, mich an dem Buch zu freuen (die Autorin ist übrigens auch gläubig:) und mich dennoch inspirieren zu lassen. Es ist auch eine schöne Herausforderung, als 6-köpfige Familie so eng zu leben und es zu einem schönen und praktischen Lebensraum für alle zu machen. Und es ist erstaunlich, wie man doch immer wieder Dinge verändern kann und neu gestalten kann, wenn man Mut und ein Ja zur Veränderung hat.

Und es ist gut, da ich, wenn ein Raum mir zu laut wird (d.h. wenn sich zu viel ansammelt, es zu unordentlich wird, man keinen Platz mehr findet …) automatisch beginne, auszuräumen, wegzugeben, auszusortieren. Das bringt es mit sich, wenn man einfach keinen Platz hat für Krempel… 😉 Immer wieder packt es mich deshalb und ich versuche, mit so wenig auszukommen, wie möglich, klar zu sortieren, und mir auch Gedanken zu machen, wem ich was schenken könnte. 

Ich merke, wie meine Augen aus sind nach Schönheit. Irgendwie hat Gott mich so gemacht. Irgendwie denke ich, hat Gott uns alle so gemacht. Die ultimative Schönheit zu sehen, das ist Jesus, seine Herrlichkeit und Schönheit, ach, wenn ich die doch nur immer so vor Augen hätte wie meine schöne neue Deko, an der ich mich so freue… alles ist letztendlich ja der Abglanz seiner Schönheit, alles, was hier auf Erden ist. 

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Von den vielen verborgenen Heldinnen

Schon seit ich noch ein junges Mädchen war, vielleicht 12 Jahre alt, war ich begeistert von Mutter Teresa. Ich verschlang Bücher über sie, hielt Referate über ihr Leben in der Schule, hatte ihr Gebetsbuch und ließ mich von ihren Gebeten inspirieren für mein eigenes Gebetsleben. Wenn ich mit der Schule fertig sein würde, wollte ich auf jeden Fall mal ein Jahr zu den Schwestern der Nächstenliebe nach Kalkutta. Ich sah mich schon mit abgemagerten und dreckigen Kindern im Arm und sehnte mich danach, diesen vergessenen Menschen Jesu Liebe zu bringen. Als Mutter Teresa dann 1997 starb (wir waren gerade in Spanien auf einer Familienfreizeit) war ich auch sehr bewegt und befasste mich weiterhin sehr mit ihr. 

Wusstest du, dass Mutter Teresa eine Albanerin war? Sie wird hier in Albanien als Nationalheldin verehrt, es gibt einen extra Feiertag für sie und hier und da sieht man Statuen von ihr. Sie ist eine Heldin für dieses Land und für die ganze Welt. 

Doch hier will ich nicht über sie schreiben. Schon lange liegt es mir auf dem Herzen, über andere Heldinnen zu schreiben. Frauen, die im verborgenen leben, alleine kämpfen und leiden. Frauen, die mir in vielerlei Hinsicht ein Vorbild sind. Je länger ich hier lebe und je mehr Schicksale von Frauen ich mitbekomme, je mehr Frauen mir gegenüber sitzen und mir ihre Geschichte erzählen, desto mehr wächst in mir die Ehrfurcht vor diesen Heldinnen. Nach außen sehen sie nicht so aus. Vielleicht erscheinen sie auf den ersten Blick auch als schwach und gleichgültig, nicht ehrgeizig genug, sich in ihr Schicksal ergeben ohne zu kämpfen… So dachte ich manchmal. Doch je mehr ich mitbekomme, je mehr sich mein Herz mit ihrem verbindet, desto mehr sehe ich auch die Kraft und Stärke, die in ihnen liegt. 

Manchmal sitze ich da und bin beschämt. Beschämt, wenn ich mitbekomme, wie schwer ihr Leben war und ist. Wenn ich darüber nachdenke, wie sie ihr ganzes Leben nur gedient haben und dienen. Wie sie es selbstlos und selbstverständlich tun. Wie sie sich hingeben für ihren Mann und vor allem für ihre Kinder. Wie schnell bin ich am klagen und wie schnell ärgere ich mich schon mal über dieses oder jenes Verhalten von meinem Mann oder meinen Kindern.

Hier sitze ich Frauen gegenüber, die viele Kinder geboren haben, oder die Scham der Kinderlosigkeit ertragen mussten. Frauen, deren Kinder gestorben sind, bevor sie drei Jahre alt waren, Frauen, deren Männer im Gefängnis sitzen, die trinken, sie schlagen, sie anschreien, ihnen untreu sind und selber aber ihre Frauen vor Eifersucht zuhause einsperren. 

In so viele Augen habe ich geschaut, die sich mit Tränen gefüllt haben, zitternde Lippen, ein nach Fassung suchendes Herz, das aber manchmal einen Raum braucht um all den Schmerz freizulassen, der viel zu oft viel zu lang viel zu fest verschlossen ist. Es ist eine Art, sich zu schützen, abzustumpfen, all das Elend zu ertragen.

„Ich will gar nicht mehr haben, reicher sein,  ich will nur ruhig leben.“ 

„Seit zwanzig Jahren leide ich unter diesem Mann. Ich lebe nur noch für meine Kinder. Dass sie ein besseres Leben haben…“

„Ich habe als Kind solche Armut erlebt, dass ich jetzt mit diesem kleinen bescheidenen Leben so zufrieden bin…“

„Ich könnte unsere miserablen Lebensumstände so viel besser ertragen, wenn mein Mann nur nicht immer betrunken nach Hause kommen und alles Geld ausgeben würde…“

Die Nöte sind vielschichtig. Aber ich bewundere diese Frauen, wie sie sich so oft doch so eine Fröhlichkeit bewahrt haben, ihre Gesichtszüge weich geblieben sind, sie sich immer wieder investieren in eine schier aussichtslose Beziehung, wie sie dienen, ganz selbstverständlich, sich zurücknehmen und für andere leben. 

Manchmal kommt man als Ausländer an, sieht ungerechte Lebenssituationen, denkt, dass man sich doch das alles nicht gefallen lassen kann, dass man doch aufstehen muss, zur Polizei gehen, die Familie einschalten, und überhaupt: tu doch etwas dagegen!

Doch jetzt sitze ich oft da, spüre meine eigene Unfähigkeit wirklich zu helfen. Ich höre mir Geschichten ruhig an. Ich weine mit. Ich habe in meinem Herzen großen Respekt. Ich drücke diesen aus. Ich umarme und ich segne in Jesu Namen. Und ich biete ihnen die effektivste Hilfe überhaupt an: für sie zu beten. Ich sehe dann ein wenig mehr Hoffnung in diesen Augen, ich sehe eine große Dankbarkeit und Wärme in dem, wie sie meine Hand halten. Ich möchte so gerne diese Frauen direkt in Jesu Arme lieben und sie dort lassen. 

Ich habe gegeben, was ich konnte, und bin doch beschenkt durch das Beispiel von Frauen, die innere Stärke und Würde leben inmitten von lebensfeindlichen Umständen. Sie sind meine Heldinnen. Hier mitten in meiner Mitte. Ich will sie ehren und lieben und von ihnen lernen. 

Zwischen Verzweiflung und Hoffnung - aus dem Leben einer Freundin


Es ist noch dunkel draußen. So langsam macht sich die Kälte im Haus breit. Die Nächte werden kälter und am Morgen bedeckt der nasse Tau alles, auch die Wäsche, die in diesen Tagen kaum trocknen will. Die Glühbirne an der Decke hat selbst ihr trübes Licht ausgehaucht und hängt schon seit ein paar Tagen nur noch als unschöne Deko von der abblätternden Decke. Das Licht vom Flur muss genügen. Alma rafft sich auf und steigt aus dem Bett. Die Kälte kriecht in alle Glieder. Sie holt Holz und beginnt gegen die Nässe anzukämpfen und ein Feuer zu entzünden. 

Ihre Gedanken gehen zu ihrem ältesten Sohn, der vor einigen Monaten, kurz vor seinem 18.Geburtstag, illegal nach England gereist war. Wie es ihm wohl gerade geht? Ob er friert? Ach nein, in England ist ja alles besser. Da gibt es sicher keine Kälte in Häusern. Verschlafen kommt ihr zweiter Sohn zur Tür herein, gähnt und verlangt von seiner Mutter seine Lieblingshose, die er aber gestern beim Fußball spielen komplett verdreckt hatte. Mit ein paar unschönen Worten beschwert er sich, dass sie noch nicht gewaschen ist. 

Mit kalten Fingern beginnt Alma, sich einen Kaffee auf ihrem kleinen Bunsenbrenner zu kochen. Hätte ich nur ein Mädchen, dann würde sie mir jetzt den Kaffee kochen und ich könnte schon mit dem Hausputz beginnen.  Obwohl sie dankbar sein kann für ihre drei Jungs und in ihrer Kultur dafür als glücklich angesehen wird, sehnt sie sich nach einem Mädchen. Jungen helfen ja gar nicht, so wenig, wie ihr Vater. Da kommen wieder diese mulmigen Gefühle und ihr Herz zieht sich zusammen bei dem Gedanken an letzte Nacht. Ihr Mann kam völlig betrunken nach Hause. Den ganzen Tag war er weggeblieben und hatte das wenige Geld, das er als Tagelöhner bekommen hatte, sofort wieder ausgegeben. Getrunken und gespielt. Sinnlos. Nichts war übrig geblieben. Die Verzweiflung in ihrem Herzen trieb ihr die Tränen in die Augen. Fast wäre ihr Kaffee übergekocht. 

Vor 20 Jahren war Alma noch ein vergnügtes junges Mädchen gewesen, hatte mit ihrer Familie ein einfaches, aber schönes Leben im Dorf gehabt. Trieb jeden Morgen früh die Kühe auf die Weide, träumte tagsüber von ihrem Leben und was es bringen würde. Wie sie einen Mann haben wird, der sie respektiert und die Familie versorgt. Sie selbst, inmitten ihrer wohlerzogenen, hübsch angezogenen, spielenden, fröhlichen Kinder…

Doch warum haben ihre Eltern gerade diesen Mann für sie ausgesucht. Alle seine acht Brüder sind recht ordentliche Männer geworden, nur ihrer ist wie das verlorene Schaf, der verlorene Sohn, der im Dreck liegt und nicht aufstehen kann. Schon einmal war er 10 Jahre im Gefängnis gewesen und sie hatte auf ihn gewartet, die ganze lange Zeit. Da erinnert sie sich wage an die Geschichte, die ihr ihre Freundin erzählt hatte. In dieser Geschichte stand doch der verlorene Sohn auf und ging nach Hause, zum Vater. Und was sagte mir meine Freundin immer wieder: Gib die Hoffnung nicht auf. Jesus hat die Macht auch diesen verlorenen Sohn zurückzuholen und zu verändern. 

Leider ist seit vielen Jahren Gebet noch nicht viel passiert. Dennoch erinnert sich Alma nur zu genau, wie durch Gebet im Namen Jesu eine dunkle, staubige, traurige Decke von ihr gehoben wurde und ihr Herz, wann immer sie an Jesus denkt, leicht und freudig wird. Er hat sie befreit von den Tränen, die sich immer wie ein nicht versiegender Bach Bahn machten, wann immer die Verzweiflung zu groß wurde. Jesus ist ihre einzige Hoffnung, das weiß sie. Zuletzt hatten sie eine Kinderbibel gemeinsam gelesen. Die Bilder und der Text hatten sie so berührt. Wie ein Kind hat sie da gestaunt, über Gottes Geschichte mit den Menschen. Sie wollte ja zu Beginn gar nicht glauben, dass sie Sünderin ist. Nein. Sie ist doch nicht so schlimm wie die anderen. Sie trinkt nicht, stiehlt nicht, hat noch nie jemanden umgebracht oder ein schlechtes Wort gesagt. Naja, fast nie. Braucht auch sie wirklich einen Retter? Braucht auch sie wirklich Jesus?

Langsam wird es hell. Noch liegt dichter Nebel über dem Land und vor ihrer Tür. Doch mit Macht dringt die Sonne immer weiter vor. Schon ist sie über dem hohen Berg hinter ihrem Haus emporgestiegen. Stück für Stück hebt sich die dicke Nebelwand. Immer mehr vergehen die scheinbar undurchdringlichen Schwaden und machen den Blick frei. Auf einmal ist da der blaue Himmel, nur ein kleines Stück erst. Und auf einmal ist da die Sonne, die auf ihr Gesicht scheint und die Wärme spürt sie wie durch ihren Körper spazieren. Langsam verblassen die schweren Gedanken und sie machen Raum für diese Hoffnung, die doch da sein muss und stärker ist!

Sie macht weiter. Beginnt mit ihrer Arbeit, verabschiedet die Söhne zur Schule, fängt an zu kochen mit dem wenigen was sie hat, unterhält das Feuer und atmet tief durch und flüstert leise, kaum hörbar: Jesus.

Woran man erkennt, dass unsere Kinder in Albanien aufwachsen

Es gibt immer wieder so Situationen in Alltag, die mich zum schmunzeln bringen. Es sind Dinge, die meine Kinder tun oder sagen, die mir klar zeigen: meine Kinder sind deutsch, ja, aber sie verbringen eine entscheidende Phase ihrer Kindheit in einer anderen Kultur, in Albanien, in einem Land, einem Umfeld, in dem vieles sehr anders ist, als wir gewohnt sind. Ja, wir erziehen sie auf „deutsche“ oder besser auf „christliche“ Art und Weise (das versuchen wir jedenfalls mit Gottes Hilfe). Und dennoch werden sie geprägt. Und das ist mir manchmal gar nicht so bewusst. 

Viel könnte man dazu schreiben, hier wollte ich allerdings nur einige Begebenheiten erzählen, die mich echt zum Lachen gebracht haben und auch euch zeigen können, von welchem Weltbild unsere Kinder umgeben sind und was in ihrem Alltag normal ist.

„Warum redest du mit einem Mann?“

Als wir in Deutschland waren und ich mich nach einem Gottesdienst mit einem Freund unterhalten habe (sicher habe ich ihn auch zur Begrüßung umarmt), fragte mich Livia im Anschluss etwas aufgebracht: „Mama, wer ist der Mann, mit dem du da gesprochen hast?“ (Sie sagte das in so einer besorgten Weise, dass ich lachen musste und ihr dann erklärt habe, dass man einfach auch andere Männer als gute Freunde haben kann…) - Hintergrund dazu ist, dass wir hier in einer extrem getrennten Frauen und Männer Welt leben. Ich rede nicht viel und intensiv mit anderen Männern hier und das beobachten meine Kinder natürlich. Daher ist es verständlich, dass Livia das auffällt…

„Mama, eine Frau am Steuer!“

Auch in Deutschland: Gideon schaut aus dem Fenster, als wir mit dem Auto unterwegs sind und stößt voller Verwunderung aus: „Da fährt eine Frau mit dem Autos! Und da auch! Mama, warum fahren hier so viele Frauen Auto?“ noch dazu kam, dass viele der Frauen mit schönen, dicken Autos fuhren. -

Tatsächlich fuhren bis vor kurzem noch sehr wenige Frauen hier mit dem Auto. Das hat sich im letzten Jahr etwas geändert. Immer mehr Frauen machen jetzt Führerschein. Aber Autos sind eine absolute Männer Domäne hier und das Statussymbol schlechthin. Unser Gideon lässt sich auch sehr von tollen und vor allem schnellen Autos faszinieren. Und ich habe gemerkt, dass sogar Henry schon zu Autos läuft (ihm ist es allerdings egal, wie sie aussehen) und darauf zeigt. 

„Juchu, Strom ist da!“

Jemima möchte bei unserer albanischen Oma etwas Fernsehen. Bevor sie voller Freude runter läuft, kommt sie in die Küche und schaut auf die leuchtenden Zahlen auf unserem Ofen. „Strom ist da!“, freut sie sich und weg ist sie. „Stromausfall“ ist ein sehr alltägliches Wort bei uns. Unsere Kinder sind es schon sehr gewohnt und sind in keinster Weise mehr überrascht, wenn es plötzlich völlig dunkel wird. 

„Darf ich mir meine Frau selber aussuchen?“

Abends im Bett hat man ja bekanntlich die tiefsten Gespräche mit den Kindern. So lag ich letztens bei Gideon im Bett und wir unterhielten uns. Er fragte mich dann: „Mama, darf ich mir meine Frau selber aussuchen oder nicht?“Ja, ich musste innerlich schmunzeln, aber es zeigt, wie sehr Gideon von der Kultur hier geprägt ist.

Hier wird man nämlich in der Regel noch verheiratet. D.h. die Eltern arrangieren die Verbindung zwischen Mann und Frau. Ein normales kennenlernen ist normalerweise nicht möglich. So oft wir unseren Kindern natürlich erzählt haben, dass sie ihren Ehepartner selber aussuchen dürfen (Jemima möchte Gideon heiraten und Livia den Papa und Gideon die Mama… 😉 und wir auch dafür beten, dass sie jemand tolles finden, so sind sie doch so von ihrem Umfeld beeinflusst, dass das manchmal in den Hintergrund rückt… 

„Und jetzt ordentlich posieren, bitte!“

Am Sonntag haben wir einen kleinen Ausflug gemacht. Auf einem der vielen alten Bunkern aus kommunistischer Zeit kann man tolle Fotos machen. Ich bin immer wieder total überrascht, wie gekonnt Livia (und immer mehr auch Jemima) posieren kann. Hände in die Hüfte, ein seitlicher Blick von unten hoch, ein Bein vor, die Hüfte elegant auf die Seite, ein Kussmund und vieles mehr. Da ist wirklich ein kleines Modell an ihr verloren gegangen. Es ist manchmal schwer, diesen inneren Drang, sich so in Pose zu bringen, zu unterdrücken, wenn wir z.b. ein „natürliches“ Familienfoto machen wollen. Da sehen wir immer wieder eine Livia mit Händen in der Hüfte und einem aufgesetzten Lächeln… 

Auch das spiegelt zutiefst die albanische Kultur hier wieder. Auf Fotos posiert man extrem (in unseren Augen) und versucht sich möglichst ins allerbeste Licht zu rücken. Die vielen verschiedenen Filter, die es jetzt gibt, sind hier überaus beliebt, v.a. die, die das Gesicht wie das einer Schaufensterpuppe erscheinen lässt. 

Livia spielt viel mit ihren Freundinnen und sieht hier und da Musikvideos (da hier ja der Fernseher so gut wie immer läuft) und das färbt auch ab…

„Kindergeburtstage!“

Ein großer Vorteil ist es, dass wir hier nicht so unter dem Druck des Vergleichens mit anderen stehen. Also, jedenfalls nicht so wie in Deutschland. Das fällt mir besonders auch bei Festen auf. Was ich aus Deutschland teilweise höre, das macht mir schon fast Angst. Kindergeburtstage sind bis ins kleinste Detail geplante Events, die möglichst mindestens genauso toll und aufwendig sind, wie die der Freunde in der Schule. (Ist vielleicht etwas übertrieben…)

Hier werden Geburtstage eher nicht gefeiert. Geschenke haben viele Kinder noch nie in ihrem Leben bekommen. Daher versuchen wir die Geburtstage unserer Kinder schön, aber auch bescheiden zu gestalten. Ich finde es schön zu sehen, wie unsere Kinder auch mit wenig und kleinen Geschenken zufrieden und glücklich sind.

Zu Mimas Geburtstag haben wir ein Spiel gespielt als wir spazieren gingen. Wir sammelten alle Getränkedosen vom Straßenrand (und das sind extrem viele, da das leider hier völlig normal ist, einfach den Müll aus dem Auto zu schmeißen, egal, wo man ist…), warfen sie auf die Straße und machten uns einen Spaß, die rollenden Dosen plattzutreten (wenn sie nicht schneller waren…:) dann packten wir alle zusammen und schenkten sie einer uns bekannten Frau, die sie verkauft und etwas Geld dafür bekommt… ich musste mir nichts großes ausdenken, aber es machte so einen Spaß. Dabei haben wir noch die Natur gereinigt und einer Frau geholfen. 

Es gäbe noch so einige Dinge, die so anders sind im Leben unserer Kinder. Ich hoffe und bete, dass ihre Kindheit in Albanien ihnen in richtig guter Erinnerung bleibt und für sie ein Schatz wird, der sie für ihr ganzes Leben begleitet. 

Der kleine Samuel und die Sache mit dem Tod in Albanien

Warum wir Samuel kannten 

Vor ein paar Tagen haben wir von dem Tod eines kleinen Jungen, sieben Jahre alt, gehört. Dieser Junge, Samuel hieß er, hatte ein krankes Auge, was ihn zum Gespött vieler Kinder werden ließ. Das veranlasste ihn, das Haus nicht oft zu verlassen. Zu unserem Kindersommerprogramm letztes Jahr kam er jedoch immer mit großer Freude und es war so schön zu sehen, wie er sich wohl fühlte und einfach einer von allen anderen war.

Zu unserem Abschlussfest am Ende der Woche kam, als eine der wenigen Mütter, auch seine Mutter. Ich unterhielt mich mit ihr und sie erzählte, wie froh er war in diesen Tagen und wie wohl er sich bei uns gefühlt hat. Jeden Tag bat er seine Mutter inständig, doch zu den „Deutschen“ gehen zu dürfen. Sie selbst wollte nun sehen, wer wir sind und warum das so war.

Samuel wurde bald darauf wohl sehr krank. (Er war es auch zu dem Zeitpunkt der Kinderwoche schon.) Leider hatten wir seitdem keinen Kontakt mehr zu der Familie. Jetzt hörten wir von seinem Tod. Es hat uns tief getroffen. Ich habe geweint um diesen Jungen und sein kurzes Leben. Wer von uns hätte im Sommer gedacht, dass er schon wenige Monate später nicht mehr leben würde.

Wie Beerdigungen in Albanien ablaufen 

Gestern gingen wir dann zum Trauerbesuch zu der Familie. Innerhalb von 24 Stunden werden hier die Toten beerdigt. Wenn jemand am Abend verstirbt, wird er normalerweise am folgenden Tag um die Mittagszeit beigesetzt. So schnell… 

Alles folgt einer ganz genauen Tradition. Bevor der Tote beigesetzt wird, wird er im Sarg aufgebahrt vor seinem Haus. Die Familie steht hinter dem Sarg und viele Männer (nur Männer) der Stadt gehen, einer nach dem anderen am Sarg vorbei und wünschen jedem der Familienangehörigen „Zoti te le shenosh“ (Gott erhalte dich gesund). Dann wird der Sarg zugemacht und zum Friedhof gefahren. Alle Männer (keine Frauen, nicht mal ganz nahe Angehörige) begleiten den Sarg und wohnen dann der Beisetzung bei. Manchmal findet diese ganz ohne Worte statt. Manchmal betet der Imam der Stadt. Dann wird zugeschaufelt und die Menge löst sich auf. 

Der Besuchsmarathon an den Tagen danach

An diesem und an den vier darauf folgenden Vormittagen empfängt die Familie dann Besucher. Das sieht dann so aus: die männlichen Angehörigen sind in einem Café versammelt und dorthin kommen dann die Männer der Stadt zum Respektsbesuch. Man gibt jedem der Angehörigen die Hand, spricht Anteilnahme aus, trinkt einen Kaffee und legt dann 500lek auf das Tablett. Nach kurzer wertloser Zeit geht man dann wieder. Die Namen der Besucher und wieviel sie dagelassen haben, wird genau aufgeschrieben. Dieses Buch dient dann dafür, um zu wissen, zu welchen Beerdigungen man in Zukunft gehen muss. (Man geht hier durchaus nicht nur auf Beerdigungen von Menschen, die man persönlich kannte. Es reicht, wenn die Person Teil einer Familie ist, die man kennt…)

Die Frauen treffen sich im Haus des Verstorbenen. Vor der Tür stehen Frauen, die einen in die entsprechende Wohnung führen. Auf der Straße davor (auch vor der Café, steht ein Stuhl mit einem weißen Handtuch darüber - für alle ein Zeichen, dass dort ein Trauerfall ist). Im Wohnzimmer sitzen dann die Weiblichen Angehörigen, alle auf Sofas. Die nächste Angehörige, hier im Fall von Samuel die Mutter und dann die Oma, wird als erstes kondoliert. Dann geht man die ganz Reihe durch. Am Ende setzt man sich auch hin, bekommt einen Kaffee und hinterlässt 500lek auf dem Tablett. Nach einiger Zeit steht man auf, geht wieder durch die ganze Reihe durch und verabschiedet sich. 

Je nachdem, wer gestorben ist, kann es sein, dass gut die ganze Stadt verteilt an diesen fünf Tagen zu Besuch kommt. Das Geld hilft der Familie, die Kosten der Beerdigung zu tragen und darüber hinaus. 

Unser Besuch bei Samuels Familie 

Samuel hatte in einem der Hochhäuser hier gewohnt. Eine typische Wohnung, nicht reich, aber auch nicht zu arm. Die Mutter war sichtlich noch unter Schock. Sie weinte nicht, sie saß mit geneigtem Blick da. Keiner weinte. Dennoch bestimmte Trauer die Stimmung. Wir saßen da und schwiegen erst einmal. Die Menschen hier freuen sich und respektieren sehr, dass wir zu solchen Anlässen kommen und ihnen damit Respekt zollen. 

Nach einer Weile erzählen wir, woher wir Samuel kennen und welche Freude er auch in unser Herz gebracht hat durch die Freude, die er ausstrahlte. Und war sagten, dass wir für sie beten. Wir fragten, ob wir gleich beten dürften in Jesu Namen. 

Als wir begannen, da fingen plötzlich viele an zu weinen und es war, als würde ein Damm brechen und endlich bekam das Raum, was jeder versuchte in seinem Herzen einzusperren. Es war besonders. Es war hart. Ich kämpfte mit meinen eigenen Tränen, rang um die richtigen Worte in solch einer schweren Situation. 

Darum sind wir hier

Nicht immer ist es uns möglich zu beten. Aber zu sitzen und die Trauernden zu sehen, die ja so oft keine Hoffnung und Gewissheit haben, das bricht mir das Herz. 

Diese Zeiten erinnern mich wie keine anderen daran, warum wir hier sind und warum die Nachricht der Hoffnung hier endlich tiefe Wurzeln schlagen muss und Menschen erfüllt werden mit dem Licht des Evangeliums.

Photo by Ayanna Johnson on Unsplash

Das waren Zeiten

Vor ein paar Tagen haben wir hier unsere zweite junge Lernhelferin begrüßt. Sie wird noch ein halbes Jahr mit uns in unserer schönen Stadt verbringen und uns v.a. beim unterrichten unserer Kinder unterstützen. Als ich am Samstag mit unserer anderen Lernhelferin zum Flughafen gefahren bin und wir uns so unterhielten, da erzählte ich von meiner Zeit als junges Mädel. Ich war fertig mit dem Gymnasium und mein Traum war es, für ein Jahr nach Haiti zu gehen. Das hatte ich schon drei Jahre zuvor von Gott fest aufs Herz gelegt bekommen. 

Meine Reise in die Ferne

Ich erinnerte mich zurück an diese aufregende und so prägende Zeit. Ich war gerade 20 geworden, als ich mich allein aufmachte, mit zwei schweren Koffern und ordentlichem Herzklopfen. Von einem kleinen Flughafen in Oberfranken flog ich nach Frankfurt, von dort nach Paris. Dann ging es das erste mal für mich über den großen Ozean. Ich erinnere mich noch so gut, wie ich mir wünschte, einfach jemand bekanntes dabei zu haben, und wenn es nur mein damals sieben Jahre alter Bruder gewesen wäre.

In Miami angekommen musste ich auschecken, mein kleines Hotel finden unter hunderten anderen und am nächsten morgen rechtzeitig aufstehen, um den frühen Flug, mit fast nur schwarzen Menschen („Was will nur dieses junge blonde Mädel ganz allein unter all diesen Menschen?“ - das kommunizierten mir viele interessierte Blicke) zu bekommen. In der Zwischenzeit, seit meinem Abflug in Deutschland, wurde Haiti von einer großen Überschwemmung heimgesucht. Das erzählten mir meine nicht ganz unbesorgten Eltern, als ich gerade froh war, mein Hotelzimmer gefunden zu haben und erstmal eine kleine Last von mir abfiel. Da kam die nächste Sorge. Werde ich reisen können? 

Doch alles klappte. Die Überschwemmungen waren mehr im Norden des Landes gewesen und daher war meine Fahrt in den Süden Haitis nicht betroffen. 

Das Abenteuer beginnt

Nach dieser abenteuerlichen Reise (oh, Gott hatte mir so viele Engel in unterschiedlichen Personen geschickt, die mich den ganzen Weg begleitet hatten…) begann das Abenteuer der jungen Rahel Hasch. Weit weg von allem bekannten eröffnete sich mir eine neue Welt, neue Menschen, neue Gerüche, neue Ansichten und Weltsichten, eine neue Sprache (die wesentlich einfacher ist als albanisch), und vor allem tauchte ich in eine bisher noch nicht gekannte Tiefe der Beziehung zu Gott ein. (Am Ende des Artikels findest du ein paar Fotos von der Zeit.)

Ohne Verbindung zur Aussenwelt

Ein Grund dafür sehe ich darin: damals, also 2004, da hatte noch nicht jeder ein Smartphone (und schon gar nicht ich, junges Mädel vom Lande…). Ich hatte keinen Laptop dabei. Und stellt euch vor, es gab noch kein WhatsApp oder irgendwelche anderen sozialen Netzwerke. (Um genau zu sein, wurde Facebook genau in diesem Jahr gegründet…). In meinen 10 Monaten in Haiti telefonierte ich vielleicht fünfmal mit meiner Familie. Schlechte Qualität der Verbindung und hohe Kosten mussten wir dabei in Kauf nehmen. Ansonsten schrieb ich hier und da eine Mail und unzählige Briefe. 

Zeit zum Schreiben im Überfluss

Und was ich alles geschrieben habe. Ich habe letztens meine Tagebücher aus dieser Zeit gefunden. Sage und schreibe vier Stück, in kleinster Schrift, ordentlich und sauber geschrieben. Sie lesen sich wie ein Roman. Was hatte ich da doch für Zeit gehabt. Und für ein Bedürfnis, mich mitzuteilen, und wenn auch nur meinem Tagebuch.

Ich hatte am Abend, wenn es dunkel war und man im Haus sein musste, kein Smartphone neben mir liegen, welches mich durch Piepstöne immer wieder unterbrechen konnte, keine Familienmitglieder oder Freunde, die ganz schnell und ganz dringend etwas wissen wollten. Kein Netflix oder Amazon Prime, das mich vielleicht an dem ein oder anderen einsamen Abend verführt hätte, mich in andere Welten versinken zu lassen. 

Das Geschenk ganz da zu sein

Nein, ich war da. Ich war vor Ort. Ich war ganz da, mit meinem ganzen Herzen und meiner ganzen Seele. Ja, ich war manchmal einsam und sicher wäre es schön gewesen, etwas öfter Kontakt mit dem ein oder anderen gehabt zu haben. Aber dann hätte es auch nicht diese aufregenden Momente gegeben, als wieder mal ein großer Postsack aus der Hauptstadt gebracht wurde und hunderte Briefe von allen Missionaren der großen Missionsstation auf dem Boden ausgeschüttet wurden. Und die Freude, wenn unter all den Briefen auch einer für mich war. Von so weit her, aus meiner Heimat, einer anderen Welt. 

Ein Leben ohne Ablenkung

Ich bin heute so froh, dass damals noch diese Zeit der geringen Ablenkung (im Vergleich zu heute) herrschte. Abends saß ich an meinem Schreibtisch und schrieb. Jeden Tag, oft morgens (nach meinem 6 Uhr Spaziergang) und abends. Ich schrieb und schrieb. Schrieb mir alles von der Seele und Gott zu. Er hörte zu. Und er brachte mich in dieser Zeit zu einer neuen Reife. Einer neuen Abhängigkeit. Einer tiefen Sehnsucht nach ihm und der Gemeinschaft mit ihm. Er weckte in mir noch mehr wie zuvor, die Lust zum Schreiben. Zum verarbeiten, zum beten in schriftlicher Form. 

Zurück in unserer Zeit

Als ich meinem Sohn heute eine Auszeit gab und es im Zimmer so ruhig war, dass ich dachte, er sei eingeschlafen, da saß er am Tisch und schrieb in sein neues Tagebuch. Er schrieb los: „Gestern…“. Beginnt so die Karriere meines Sohnes als Schreiber? Ich erzählte ihm von meinen Tagebüchern und davon, dass sie sie eines Tages alle lesen dürfen und sie dann wahrscheinlich ihre Mama noch einmal tiefer kennenlernen werden. Das ist ein Schatz. Ein unbezahlbarer Schatz für mich!

Ja, das waren noch Zeiten. Sie haben sich geändert. So viel hat sich in diesen 15 Jahren verändert. So viel. Ich wünschte mir, ich ließe mich weniger ablenken und stattdessen würde ich sitzen, bei Kerzenschein, Tag ein, Tag aus, und würde schreiben… 

Wie kann man da schweigen?


Wir sitzen zu 6 Frauen zusammen. Haben Kaffee getrunken, geredet, gebetet und die Bibel gelesen. Das erste Treffen dieses Jahr. Dementsprechend gering ist die Konzentration, weil erst mal vieles ausgetauscht werden muss. Auf einmal schauen die Frauen schockiert aus dem Fenster.

Ein Mann wird mit verbundenen Händen in die Polizeistation geführt. Mit dabei ein junges Mädchen, seine Tochter. Sie kennen diesen Mann. Er wohnt in ihrem Hochhaus. Ist alkoholabhängig. Und sie hören regelmäßig, wie er seine Frau und Kinder schlägt. Sagen aber nichts dazu. Weil man das nicht macht. Aus Angst vor schlechtem Gerede. Es oft eh nichts bringt.

Die Frauen sind schockiert. Und fangen an von ihren eigenen Situationen zu Hause zu erzählen. Der Mann von einer Frau trinkt jeden Tag. Er schlägt sie nicht, bedroht sie aber verbal so heftig, dass sie manchmal zu den Nachbarn flieht. Oder er schließt sie aus. Oder ihre Eltern müssen kommen, um die Situation zu entschärfen. Die Tochter einer Frau wurde im jungen erwachsenen Alter von einem Mann kurz vor der Haustür abgefangen, der ihr Geld für Sex angeboten hat. Gott sei Dank hat sie spontan sehr weise reagiert und konnte sich aus der Situation befreien. Sie hat sich erst Jahre später getraut ihrer Mutter davon zu erzählen, weil sie sich so geschämt hat.

Eine andere Frau erzählt zum ersten Mal, dass ihre Ehe eigentlich auch nicht gut läuft. Dass ihr Mann, wenn er trinkt, aggressiv wird, sie respektlos behandelt. Die Menschen, die um sie herum leben wissen das. Eine andere Frau war 3 Monate lang verheiratet. Wie so oft mit Vermittlung. Dann hat sie gemerkt, dass ihr Mann drogenabhängig ist. Und mit dabei sitzt eine Frau, die von ihrem Mann geschieden ist. Der Grund: Jahrelange häusliche Gewalt. Nur mit viel Unterstützung ihrer eigenen Brüder konnte diese Frau diesen Schritt tun. Sie wird von vielen dafür schräg angeschaut. Sie sagt gar nichts zu dem Thema.

Mir fehlen auch einfach die Worte. Was soll ich dazu sagen? Wie kann ich diese Frauen ermutigen, die oft ein schreckliches Leben haben? Und keine Möglichkeit haben da raus zu kommen. Wie muss sich das junge Mädchen fühlen, das ihren Vater zur Polizei begleitet?

Ich erzähle ihnen eine Geschichte, an die ich mich immer in solchen Momenten erinnere. Momente, in denen ich nach Hoffnung suche. Eine Familie in Peru. Der Vater ist alkoholabhängig. Eines Tages fängt er an an Jesus zu glauben und wird von einem auf den anderen Tag frei vom Alkohol. Und ist ein anderer Mensch. Respektvoll und freundlich. Das ist kein Märchen, sondern eine Geschichte, die wahr ist. Ich war dabei. Und genau dafür möchte ich beten. Dass diese Wunder auch in unserer Stadt passieren.

Ohne Gott gibt es keine Hoffnung in all den verkorksten Situationen. Aber mit Gott gibt es Hoffnung. „Wir müssen für Wunder in unserer Stadt und besonders für die Männer in unserer Stadt beten,“ sind wir uns daraufhin alle einig. Seid ihr dabei?

Heimatlosigkeit

Ich lese in meiner Bibellese gerade die Geschichte von David. Zu den Stellen in den Samuelbüchern sind auch immer die passenden Psalme angegeben, die David in bestimmten Situationen seines Lebens geschrieben hat.

Davids Heimatlosigkeit

David hatte es sehr schwer. Seit König Saul David wegen seiner Eifersucht fast getötet hätte, ist dieser auf der Flucht. Er führte ein höchst unstetes Leben für viele Jahre. Hier war er nicht willkommen, dort musste er fliehen, dann kam wieder Saul mit seiner Armee, um ihn zu töten. Er flüchtete in die Berge, in die Wüste, in Städte und Höhlen. Er lebte in ständiger Angst vor seinem Verfolger, vor Menschen, die ihm Böses wollten, obwohl er völlig unschuldig war.

Heute las ich Psalm 56. Dieses Lied schrieb David zu Beginn seiner Flucht. Er kam in eine Stadt und war in Gefahr, dem dortigen König ausgeliefert zu werden, da er erkannt wurde. Er bekam Angst und dann die Idee, sich verrückt zu stellen. Er stellte sich wie ein Wahnsinniger und das rettete ihm das Leben. (Ideen muss man haben!)
Daraufhin schrieb er diesen wunderschönen Psalm.

An einer Stelle kam ich beim Lesen ins Stocken:

„Meine Heimatlosigkeit hast du abgemessen. Gieße meine Tränen in deinen Schlauch. Stehen sie nicht in deinem Verzeichnis?“ (Vers 9)

Heimatlosigkeit. Seit wir vor sechs Jahren ausgereist sind, hat sich die Bedeutung dieses Wortes für mich verändert. David war ganz am Anfang seiner Zeit auf der Flucht. Er musste Hals über Kopf fliehen. Er hat alles zurückgelassen und eine höchst ungewisse Zukunft lag vor ihm. Er fühlte sich plötzlich heimatlos.

Meine Heimatlosigkeit

Bei mir kam dieses Gefühl nicht plötzlich. Es kam schleichend, aber immer mehr.
So sehr wir hier unser Zuhause haben und uns meistens wohlfühlen und am richtigen Platz - hier in Albanien ist nicht unsere Heimat. Die Menschen kommen woanders her. Sie denken zutiefst anders, sie handeln anders, sie reden anders, sie fühlen anders. Wir versuchen, so gut wir können, einer von ihnen zu werden. Aber wir sind es nicht und werden es nie werden. Das ist ernüchternd.

Im gleichen Moment wird die Zeit, die wir getrennt von unserer deutschen Heimat leben, immer länger. Damit tritt automatisch ein gewisser Entfremdungsprozess ein. Wir freuen uns auf Deutschland und wir lieben unsere Familie und Freunde. Wir lieben so vieles in Deutschland. Und doch ist es irgendwie nur ein Land, in das wir zu Gast kommen. Wir haben uns verändert. Dort hat sich vieles verändert.

Die Menschen beschäftigen ganz andere Dinge wie uns hier in Albanien. Die Gesprächsthemen sind oft Welten entfernt von denen hier. Der Wohlstand hat eine ganz andere Dimension. Eigentlich kommt man ja in sein Zuhause, aber man spürt immer wieder, dass man nicht mehr wirklich dort zuhause ist. Es ist komisch und manchmal auch nicht leicht zu benennen oder zu erklären. Ich denke, dass es etwas ist, das tief in der Seele passiert ist und passiert. Dieses Gefühl: hier gehöre ich nicht dazu, aber dort irgendwie auch nicht mehr.

Was Heimatlosigkeit mit dir macht

Dieses Gefühl kennt jeder, so denke ich, der länger im Ausland gelebt hat. Und ehrlich gesagt ist es kein schönes Gefühl. Deshalb redet David auch im nächsten Moment von seinen Tränen. Von seiner Traurigkeit. Es tut weh. Es führt in Einsamkeit und sich nicht verstanden fühlen. Hier nicht und dort nicht. Wo gehöre ich hin? Wer bin ich eigentlich noch? Das sind Fragen, die Tränen produzieren können.

Aber Gott sieht diese Tränen. Er sieht diese Traurigkeit. Er sieht diese Heimatlosigkeit und den Schmerz, der damit kommt.
Er sieht das Herz und er versteht es. Er ist der Herzenskenner (Apg 1,24).

Wo ist unsere Heimat eigentlich?

Ich glaube auch, dass jeder, der dieses Gefühl kennt (vielleicht muss man auch nicht im Ausland leben, um das zu fühlen, vielleicht reicht schon ein Wechsel des Bundeslandes…;) besser verstehen kann, was es heißt,

Eine Heimat zu haben, das ist etwas schönes und kostbares. Ich denke, eines Tages wird auch Deutschland wieder in gewisser Weise zu unserer Heimat werden.
Aber ich möchte nicht dieses tiefe innere Gefühl verlieren für
die bessere, himmlische Heimat,
das bessere, ewige Bürgerrecht,
den besseren, bleibenden Besitz.
Es ist all das, was uns unser Vater versprochen hat zu geben.
Die Heimat, die wir suchen und auf die hin wir leben.
Den Ort, den Jesus für uns bereitet, an dem wir zuhause sind. Wirklich zuhause.
An dem keine Tränen mehr gezählt werden, weil es sie nicht mehr gibt.
An dem wir uns nicht unverstanden und fehl am Platz fühlen. Warum?

Weil Jesus an diesem Ort ist. Weil Gottes Herrlichkeit da ist. Weil wir dafür geschaffen wurden und unruhig und heimatlos auf dieser Erde waren, bis wir diese ewige Heimat gefunden haben.

Davids Heimatlosigkeit - Gott hat sie gesehen und David durchgetragen.
Meine Heimatlosigkeit hier - Gott sieht sie. Und Gott gebraucht sie, um meinem Herzen Großartiges zu lehren, auch durch so manche Träne hindurch.

Photo by Marco López on Unsplash